7. KAPITEL

Wenn das hier ein Familienessen ist, dachte Skye, dann ist es auf jeden Fall kein Postkartenidyll. Der Tisch im Esszimmer bog sich unter den delikaten Speisen, aber niemand aß etwas. Sie und Izzy hatten sich immer noch nicht wieder ganz vertragen, Jed war abgelenkt, und Lexi und Cruz hatten nur Augen füreinander. Nur Erin war normal, freute sich darüber, dass die Schule bald zu Ende wäre, erzählte von ihren Plänen für die Sommerferien und darüber, wie hoch sie schon springen konnte.

»Du solltest mich mal springen sehen, Grandpa«, sagte sie fröhlich.

Jed hob den Blick und sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Hast du schon irgendwelche Medaillen gewonnen?«

»Ich hab doch gerade erst angefangen. Aber ich werde bestimmt welche gewinnen.«

Jed grinste. »So gefällst du mir. Du wirst die Beste sein. Bring eine olympische Medaille heim, und wir werden sie in der Eingangshalle ausstellen.«

Zufrieden mit der Antwort, machte Erin sich wieder über ihr Kartoffelmus her.

»Ich bin Barrel-Race-Turniere in der Schule geritten«, erzählte Izzy ihr. »Das hat echt Spaß gemacht. Wir können gerne mal zusammen üben.«

»Okay«, stimmte Erin zu, wie immer glücklich über die Aussicht, Zeit mit ihrer Tante verbringen zu können.

Lexi flüsterte Cruz etwas ins Ohr, woraufhin sich ein breites Lächeln auf seinem Gesicht zeigte. Sie sind verrückt nacheinander, dachte Skye und versuchte, nicht neidisch zu sein. Sie neidete ihrer Schwester das Glück nicht - sie wollte nur auch etwas davon für sich selber haben. Jemanden, an den sie sich anlehnen konnte. Mit dem sie ihr Leben teilen, der ihr helfen konnte. Jemanden zum Lachen und Anlächeln für den Rest ihres Lebens.

Auch wenn sie wusste, dass es dumm war, schweiften ihre Gedanken sofort wieder zu Mitch. Sie hatte ihn seit dem Tag, an dem er die Wahrheit über Erin erfahren hatte, nicht mehr gesehen. Von Fidela wusste sie, dass er ins Krankenhaus eingeliefert worden war und nun auf Krücken ging. Offensichtlich war er noch nicht bereit gewesen, so weit zu laufen, wie er es getan hatte.

Sie fragte sich, wo er war, und am liebsten wäre sie zu ihm gegangen. Aber das würde sie sich verkneifen. Er würde nur wieder versuchen, sie niederzumachen. Sie sollte am besten gar nicht mehr an ihn denken.

Er war nicht ihr Traummann. Er war nur jemand, den sie mal gekannt hatte ... und an den sie ununterbrochen denken musste. Aber wer brauchte schon Lust? Sie hatte ihren Ehemann geliebt. Vielleicht war ihre Beziehung nicht wirklich Feuer und Leidenschaft gewesen, aber sie war stark und solide. Sie zuckte innerlich zusammen. Niemand suchte in der Liebe nach »solide«.

Die Menschen wollten das Feuer, auch wenn das ihrer Meinung nach reichlich überbewertet war. Sie hatte für Mitch lichterloh gebrannt, und was hatte ihr das gebracht? Nichts als Ärger.

»Die Lehrerin in der Schule hat gesagt, dass du wahnsinnige Kühe hast, Grandpa«, sagte Erin in die Stille hinein. »Ich hab gesagt, dass unsere Kühe sehr glücklich sind.«

Mit wütender Miene schaute Jed auf. »Welche dumme Schl...«

»Dad«, unterbrach ihn Skye scharf. »Sie hat nur ihre Meinung gesagt, und sie ist Erins Lehrerin.«

Jed warf Erin einen genervten Blick zu. »Sie ist trotzdem ein Dummkopf, lass dir das gesagt sein.«

Erin legte ihre Gabel nieder. »Sie weiß eine ganze Menge. Sie ist eine gute Lehrerin, Grandpa. Sie kennt halt nur unsere Kühe nicht.«

Um Izzys Mundwinkel zuckte es. »Vielleicht sollten wir sie einmal einladen. Sie könnten gemeinsam Tee trinken.«

Skye ignorierte die Bemerkung. »Sie meinte nicht, dass unsere Kühe unglücklich sind. Rinderwahnsinn ist eine Krankheit, die Kühe befällt. Wenn Menschen das Fleisch dieser Rinder essen, können sie davon auch krank werden.«

Erin kaute auf einem Stück Steak. Sie war auf einer Ranch aufgewachsen und wusste, wo ihr Essen herkam. »Aber unsere Kühe sind nicht krank, oder?«

»Nein. Sie sind definitiv vollkommen gesund. Manche Leute verstehen gerne mal etwas falsch.«

»Vor allem Erwachsene«, murmelte Erin leise.

»Da hast du recht«, bestätigte Izzy und sah Skye an.

Das Abendessen zog sich mühsam dahin. Als sie fertig waren und den Tisch abgedeckt hatten, nahmen Lexi und Cruz Erin auf ein Eis mit in die Stadt. Skye wanderte ruhelos in ihrem Schlafzimmer auf und ab. Dann nahm sie kurz entschlossen die Autoschlüssel von der Kommode und rannte die Treppe hinunter. Er würde ihr vermutlich den Kopf abreißen, aber sie musste ihn einfach sehen. Musste wissen, ob es ihm gut ging.

Auf der Cassidy-Ranch öffnete Fidela die Tür.

»Er ist in seinem Büro im Stall«, sagte sie mit besorgtem Blick. »Da ist er jeden Tag, seitdem er aus dem Krankenhaus zurück ist. Weder redet er mit mir, noch isst er etwas. Er trinkt nur. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Wirst du mit ihm reden? Wirst du dafür sorgen, dass es ihm besser geht?«

»Nun, wir wollen es mal nicht übertreiben«, murmelte Skye. »Ich werde mal nach ihm sehen.«

»Gut. Er braucht jetzt jemanden.« Ihre mit sanfter Stimme auf Spanisch gesprochenen Worte klangen beinahe wie ein Gebet.

Skye fuhr um den Stall herum und stieg dann aus dem Auto.

Es war früher Abend, die Luft war noch warm, aber man konnte die Kühle der Nacht schon ahnen. Die Insekten waren laut, die Pferde leise, und sie hatte das Gefühl, der einzig lebende Mensch auf der Welt zu sein. Das Gefühl hielt allerdings nur so lange an, bis das Geräusch von zerberstendem Glas die Stille durchschnitt.

Schnell steckte sie die Autoschlüssel in ihre Jeanstasche und rannte zu Mitchs Büro. Sie fand ihn auf eine Krücke gelehnt an seinem Schreibtisch stehend. Eine Scotch-Flasche lag zerbrochen an der Wand, eine weitere stand auf seinem Tisch.

»Ah, schau einer an, wer da kommt.« Seine Stimme klang leicht schleppend. »Skye Titan. Ist das der Tag, an dem du die örtlichen Krüppel besuchst? Kommen nach mir die Witwen und Waisen dran?«

Seine Haut war bleich, die Augen blutunterlaufen, doch als er sich einen weiteren Drink aus der frischen Flasche eingoss, war seine Hand sehr ruhig.

»Ich möchte nicht in deiner Haut stecken, wenn du morgen früh aufwachst«, sagte sie.

»Du würdest überhaupt nicht in meiner Haut stecken wollen«, erwiderte er. »Gott weiß, dass noch nicht einmal ich das will.« Schwer ließ er sich auf seinen Stuhl sinken und schob die Flasche zu ihr hinüber. »Bedien dich. Entschuldige, dass ich kein zweites Glas habe. Du kannst aber gerne aus der Flasche trinken, das macht mir nichts aus.«

Sie ignorierte die Einladung. »Ich wollte sehen, wie es dir geht.«

Er winkte mit der Krücke. »Es ging mir niemals besser. Und selbst? Du siehst heute Abend besonders sexy aus, Skye. Wieso ziehst du nicht dein T-Shirt aus, damit ich deine schönen Brüste bewundern kann?« Er prostete ihr zu. »Auf deine Brüste, Darling, und jeden Mann, den du damit in die Knie gezwungen hast.«

Er war mehr als betrunken. Sie warf einen Blick auf die Flasche und fragte sich, ob er schon eine Alkoholvergiftung hatte.

Sie nahm die Flasche mit dem Scotch, ging hinüber zur Spüle in der Ecke und leerte den Inhalt aus.

»Ich habe noch weitere fünf davon«, sagte er ungerührt.

Sie drehte sich zu ihm um und stellte die leere Flasche auf die Arbeitsplatte. »Vielleicht, aber um an sie heranzukommen, müsstest du aufstehen. Und ich bezweifle, dass du es auch nur bis zur Mitte des Raumes schaffst.«

Sein Blick konzentrierte sich auf ihre Brust. »Das kommt auf meine Motivation an.«

Sie ignorierte auch diese Bemerkung. »Hast du irgendetwas getan, seitdem du aus dem Krankenhaus raus bist?«, fragte sie. »Außer zu trinken? Oder sitzt du hier nur rum und badest in Selbstmitleid?«

Er leerte sein Glas mit einem Zug. »Dieses Spiel wirst du mit mir nicht spielen.«

»Warum nicht? Irgendjemand muss es tun. Sieh dich doch an, Mitch. Das bist nicht du. Ich weiß, dass du eine schwere Zeit hinter dir hast, aber du lebst. Du hast ein Zuhause und Menschen, denen du etwa bedeutest.«

»Aber kein Kind. Richtig? Kein Kind.«

»Du bist nach Hause gekommen.« Skye wollte unbedingt zu ihm durchdringen. »Was ist mit den Jungs, die nicht so viel Glück hatten? Was ist mit denen, die kein Zuhause und keine Familie haben? Ich denke, die haben den ersten Platz am Selbstmitleidstrog verdient. So wie ich das sehe, nimmst du dir mehr, als dir zusteht.«

Er starrte sie an. »Reiz mich nicht, kleines Mädchen«, brummte er. »Ich kann es immer noch mit dir aufnehmen.«

»Aber nicht heute Abend.«

»Ich kann es versuchen, und ich verspreche dir, dass es wehtun wird.«

Sie näherte sich dem Schreibtisch und schaute auf ihn hinunter. »Ist es das, was du willst? Mir wehtun? Wirst du dich dann besser fühlen? Gut. Dann leg mal los. Ich habe dich fallen lassen, Mitch. Habe unsere Beziehung einfach aufgegeben. Nun fang schon an, mich zu bestrafen.«

Mit einer heftigen Handbewegung knallte er das Glas auf die Tischplatte. »Es reicht, Skye. Du hast mich nicht fallen lassen. Du hast meinen Antrag angenommen. Du hast mir gesagt, dass du mich liebst und für immer mit mir zusammen sein willst, und dann hast du deine Meinung geändert, weil dein Vater es so wollte.«

Er hatte recht. In allem. »Ich hatte Angst«, gab sie zu. Jeglicher Trotz war von ihr gewichen. »Jed hätte mir den Rücken zugewendet, und das konnte ich nicht ertragen. Ich hatte schon meine Mutter verloren. Er war alles, was mir geblieben war.«

»Und du warst alles, was ich hatte«, brüllte Mitch. »Ich habe in dem Sommer meine Eltern verloren, Skye. Ich dachte, dass wir füreinander da sein würden.«

Sie ließ den Kopf hängen. »Ich weiß. Es tut mir so leid.«

»Leidtun reicht nicht.«

Sie richtete sich wieder auf. »Okay. Was willst du dann?«

»Ich will, dass du so blutest, wie ich geblutet habe. Ich will, dass du alles genauso fühlst wie ich.«

Seine Wut und sein Schmerz waren wie lebendige Wesen in dem Raum. Sie saugten die Luft auf und weckten in Skye das Gefühl, nach draußen rennen zu wollen.

Dann verstand sie ihn plötzlich.

»Du denkst, dass es mein Fehler ist«, flüsterte sie. »Du gibst mir an allem die Schuld. Wenn ich unsere Beziehung nicht beendet hätte, wärst du nicht fortgegangen. Du wärst kein SEAL geworden und hättest dein Bein nicht verloren.«

Er sagte nichts.

Sie konnte es nicht glauben. »Tut es dir leid, was du getan hast? Die ganzen Leben, die du gerettet, das, was du in der Welt bewirkt hast?«

»Darum geht es nicht.«

»Worum dann? Du hast eine Wahl getroffen. Wir beide. Und nun müssen wir mit den Konsequenzen leben.«

»Muss ja wirklich hart für dich sein.« Vor Wut klang seine Stimme gepresst. »In einem großen Haus zu leben, mit deinem Kind und allem. Lassen dich dein Schmerz und Leid nachts nicht schlafen? Bedauerst du, Ray geheiratet zu haben?«

Es läuft doch immer wieder auf diese Frage hinaus, dachte Skye traurig.

Sie schaute in die Augen des Mannes, den sie einst mehr geliebt hatte als alles auf der Welt, aber nicht genug, um sich ihrem Vater zu widersetzen.

»Nein«, flüsterte sie. »Ich bedaure es nicht. Er hat mir Erin geschenkt, und sie würde ich für nichts auf der Welt hergeben. Es ist passiert, Mitch. Hier sind wir nun.«

»Hier bist du nun. Ich bin ganz woanders.«

»Ich kenne dich nicht mehr.«

»Pech gehabt. Ich bin ein verdammt toller Kerl.«

»Das warst du mal. Nun bist du nur noch ein Mann, der will, dass die ganze Welt ihn bemitleidet.«

Mitch hatte nicht gewusst, dass man sich so schlecht fühlen konnte, ohne tot zu sein. Irgendwann letzte Nacht war er in seinem Büro bewusstlos geworden und erst kurz vor Morgengrauen auf dem Fußboden aufgewacht. Er hatte fast eine Stunde gebraucht, um zum Haupthaus zu humpeln. Die Krücken waren zu gleichen Teilen Hilfe wie Hindernis gewesen.

Eine heiße Dusche, ein starker Kaffee und eine Handvoll Kopfschmerztabletten halfen überhaupt nicht gegen das Hämmern in seinem Kopf und den sauren Stein in seinem Magen. Genauso schlimm war, dass er sich kaum noch erinnern konnte, was gestern passiert war. Er war sich lediglich ziemlich sicher, dass Skye ihn besucht und er sie sehr schlecht behandelt hatte.

Der kleine Teufel auf seiner Schulter flüsterte ihm ein, dass sie es nicht besser verdient hatte, aber der Rest von ihm war sich da nicht so sicher. Es gab gewisse Grenzen, die er nicht überschreiten wollte, und es machte ihn wahnsinnig, nicht zu wissen, ob er es bereits getan hatte.

Fidela machte so ein Aufheben um ihn, dass er es irgendwann nicht mehr ertrug. Also setzte er seinen Hut auf und machte sich wieder auf den Weg in den Stall. Wenn er sich recht erinnerte, gab es in seinem Büro noch einiges aufzuräumen. Mit Skye würde er sich später befassen.

Die halbdunkle Stille des Stalls erleichterte den Druck in seinem Kopf. Für ungefähr acht Sekunden.

»Mitch! Hi. Willst du ausreiten? Du bist bis jetzt noch gar nicht geritten, aber du musst Bullet unbedingt reiten. Er ist sehr traurig, das spüre ich.«

Die helle, hohe Stimme der Achtjährigen durchschnitt ihn wie eine Rasierklinge. Er zuckte zusammen und wünschte sich überallhin, nur fort von hier. Im Augenblick sah sogar die Physiotherapie verlockend aus.

»Erin«, sagte er ganz sanft. »Ich fühle mich heute nicht gut. Könntest du bitte etwas leiser sprechen?«

»Warum? Macht dir meine Stimme Kopfschmerzen? Bist du krank? Hast du eine Erkältung?«

Er musste ein Stöhnen unterdrücken. Eine Achtjährige anzubrüllen war keine Option. Sie war vielleicht nicht sein Kind, aber er konnte nicht gemein zu ihr sein. Es war nicht viel, aber im Moment war das der einzige halbwegs weiße Fleck auf seiner ansonsten ziemlich verschmutzten Weste.

»Alles macht mir heute Kopfschmerzen«, erklärte er.

»Ich weiß, wie sie besser werden.« Sie stemmte ihre kleinen Hände in ihre schmalen Hüften. »Wenn du dich auf Bullet setzt und mit mir ausreitest, werde ich ganz still sein.«

»Ich lass mich doch nicht von einer Achtjährigen manipulieren.«

Sie grinste. »Willst du mich mal schreien hören?«

»Erin.« Der Name war eine gebrummte Warnung.

Ihr Grinsen wurde noch breiter. »Oder ich könnte auch singen. Nun komm schon, Mitch, lass uns ausreiten.«

Auf einem Pferd durchgeschüttelt zu werden war eine besondere Form der Hölle, die er lieber nicht erleben wollte. Auf keinen Fall, sagte er sich. Auf überhaupt keinen Fall.

Aber dann stellte er fest, dass er ihr in die Augen schaute und Hoffnung darin schimmern sah.

»Du wirst dich dann besser fühlen«, flüsterte sie. »Ich versprecht dir. Ich werde kein einziges Wort sagen.« Sie schaute zu seinem linken Bein - oder dahin, wo es einmal gewesen war. »Ich weiß, dass du Schmerzen hast. Fiddle hat mir erzählt, dass du dich überanstrengt hast und dieses Prothesending dir wehtun kann.«

Sie biss sich auf die Unterlippe und berührte ganz leicht ihren eigenen Oberschenkel. »Ich hätte Angst, wenn ich ein Bein verlieren würde. Ich hätte so viel Angst, dass vielleicht nicht mal Umarmungen von meiner Mom mir helfen würden. Es ist wirklich traurig.« Sie hob den Blick, und er sah Tränen in ihren Augen. »Es tut mir so leid, dass du jetzt Schmerzen hast und dass du davor im Krieg verletzt worden bist.«

Eine einzelne Träne rann ihre Wange hinunter. »Würde es dir wehtun, wenn ich dich umarme?«

Seine Kehle wurde sehr eng, und er musste schlucken. Als er seinen Kopf schüttelte, rannte sie auf ihn zu und schlang ihre Arme um seine Taille. Sie hielt ihn so fest, als wollte sie ihn nie wieder gehen lassen.

Sie hätte von mir sein können, dachte er traurig. Sie hätte von mir sein sollen. Er und Skye hatten heiraten wollen. Wenn sie es getan hätten, würden sie jetzt auch schon eine Familie haben. Vielleicht mit einer Tochter wie Erin.

Stattdessen war ihr Vater irgendein alter Mann, der ihm Skye gestohlen hatte. Nein, ermahnte er sich. Es war nicht Rays Schuld. Er hatte nur genommen, was ihm angeboten wurde. Die wirklichen Schufte hier waren Skye und Jed. Und er würde es beiden heimzahlen.

»Sag Ja.« Erin schaute zu ihm auf. »Ich werde weder schreien noch rufen noch singen. Reit einfach ein Stück mit mir aus.«

»Okay. Du hast gewonnen.«

Sie sprang zurück und jubelte vor Freude, dann hielt sie sich schnell die Hand vor den Mund. »Sorry. Ab jetzt werde ich ganz leise sein.«

»Das wäre gut.«

Mitch ging zu Bullets Stall und hielt die Tür auf, während Erin das Pferd herausführte. Mit seinen Krücken konnte Mitch nicht dabei helfen, die Ausrüstung zusammenzusuchen, aber Erin wusste, was sie tat, und in Windeseile hatte sie den Sattel und das Zaumzeug herbeigeholt.

Der Sattel war so groß und schwer, dass sie ihn halb ziehen musste. Auf einem Bein balancierend und sich mit einem Arm auf die Krücke stützend, half Mitch ihr, den Sattel auf das Pferd zu hieven.

Zehn Minuten später war auch Erins Pferd fertig. Mitch führte Bullet zu dem kleinen Tritt, der ihm das Aufsteigen erleichtern sollte, und zögerte.

»Ich habe seit beinahe zehn Jahren nicht mehr auf einem Pferd gesessen«, murmelte er. »Und das war mit zwei Beinen.«

Er war auch nicht daran gewöhnt, von der rechten Seite aus aufzusteigen. Aber ohne seine Prothese hatte er keine andere Wahl.

»Du schaffst das«, munterte Erin ihn auf. Sie stand vor Bullet und streichelte seinen Kopf. »Ich halte ihn fest. Aber ich glaube nicht, dass er sich bewegt. Er ist etwas ganz Besonderes.«

Ja, besonders ausgebildet für einen Krüppel, dachte Mitch bitter. Er lehnte die Krücken gegen einen Balken und hüpfte dann die drei Treppen der Aufstieghilfe hinauf, wobei er sich am Geländer festhielt, um die Balance zu halten. Oben angekommen, brachte er sein linkes Bein mit einem Schwung über den Sattel. Dann verlagerte er das Gewicht, stieß sich mit dem rechten Bein ab und - saß im Sattel.

»Du hast es geschafft!«, jauchzte Erin. Das Geräusch schoss wie ein Blitz durch seinen Kopf.

Aber er erinnerte sie nicht daran, leise zu sein. Vor allem, weil es sich ziemlich gut anfühlte, wieder auf einem Pferd zu sitzen. Sie reichte ihm die Zügel. Er übte ein wenig Druck mit den Oberschenkeln aus, und Bullet setzte sich in Bewegung.

Wie ein Äffchen kletterte Erin auf ihr Pferd und schloss zu ihm auf, sobald sie den Stall verlassen hatten.

Das helle Sonnenlicht ließ seinen Kopf pochen, aber er ignorierte es. Bullets Bewegungen waren vertraut, und er wünschte sich, nicht so verdammt stur gewesen zu sein, was das Reiten anbelangte. Das hier fühlte sich gut an. Beinahe normal.

»Ich hab gewusst, dass du es kannst«, erklärte Erin.

»Ja, das hast du. Und du hattest recht.« Sie strahlte ihn an, und er lächelte zurück. Sie ritten zu der Rinderherde und umkreisten sie einmal. Auf ihrer rechten Seite befand sich der Zaun vom Hühnerhof.

Erin zeigte darauf. »Da ist ein Loch im Zaun. Wir müssen Arturo sagen, dass er es ausbessern soll, damit die Kojoten nicht die Hühner klauen.«

Meinetwegen können die Kojoten sie alle haben, dachte er. Verdammte Hühner.

»Das kannst du ja machen«, grummelte er.

»Magst du die Hühner nicht?«

»Nein.«

»Warum?«

»Das hier ist eine Rinderfarm.«

»Diversifizierung ist sehr wichtig.«

Er schaute sie an und lachte. »Woher kennst du denn das Wort?«

Sie presste die Lippen aufeinander und schaute sehr selbstzufrieden aus. »Arturo und ich unterhalten uns manchmal. Er bringt mir alles über die Ranch bei. Er sagt, man kann sein Geschäft nicht nur von einer Sache abhängig machen. Wie Rinder. Man braucht mehr, damit man für den Fall, dass etwas passiert, sicher ist. Das ist so, als wenn man seinen Regenmantel mitnimmt, wenn dunkle Wolken am Himmel hängen. Falls du es nicht tust, wirst du eventuell nass.«

»Du willst also sagen, dass Hühner wie Regenmäntel sind?«

Sie kräuselte die Nase. »Ich glaube schon. Aber Arturo hat das gesagt, nicht ich.«

»Meine Familie züchtet hier seit knapp hundert Jahren Rinder. Kein Cassidy hat jemals Hühner gehalten.«

»Sie haben auch keine Computer benutzt, trotzdem hast du einen.«

Er warf ihr einen Blick zu. »Du bist ganz schön clever.«

»Ich weiß. Und es ist ja nicht ihr Fehler, dass sie Hühner sind. Du solltest nicht böse auf sie sein.«

»Ich bin nicht böse.«

»Du siehst aber so aus, wenn du über sie redest. Es sind wirklich gute Hühner. Sie essen Kokosnüsse.«

Er zog die Zügel seines Pferdes an. »Was?«

»Vielleicht keine ganzen, aber Teile davon. Die sind in ihrem Futter.«

Kokosnüsse? »Kriegen Sie auch Pina Coladas?«

»Das weiß ich nicht.«

Er schüttelte den Kopf. »Vergiss es.«

»Es ist, damit sie kein Soja essen müssen. Ach, ich weiß auch nicht genau, was das alles heißen soll, aber du kannst Arturo danach fragen, der weiß es.«

Kokosnuss. Sicher. Und bestimmt bekamen sie ihr Abendessen auf silbernen Tabletts und mit Champagner serviert.

»Wo sind deine Eltern?«, fragte Erin.

»Sie sind vor fast zehn Jahren gestorben.«

Um Erins Mund zuckte es. »Das ist traurig.«

»Ja, das ist es. Sie haben es geliebt, zu reisen. Sie waren in Europa, in einem kleinen Flugzeug, das sie von Italien ans Schwarze Meer bringen sollte. Das Flugzeug stürzte ab.«

»Erinnerst du dich an sie?«

Er nickte. Sie waren nicht viel zu Hause gewesen. Sein Vater war hier aufgewachsen und hatte die Ranch jeden einzelnen Tag gehasst. Er fühlte sich gefangen von dem Land und den Rindern. Er hatte geheiratet und Mitch bekommen, aber innerlich hatte er gewartet, bis sein Vater gestorben war, damit er dem allen endlich entkommen konnte.

Mitch war knapp zehn gewesen, als sein Großvater starb und seine Eltern endlich die Welt bereisen konnten. Innerhalb eines Monats waren sie abgereist. Arturo und Fidela waren an ihre Stelle getreten und hatten Mitch die Stabilität gegeben, die er brauchte.

Seine Eltern hatte er nicht sehr vermisst, auch wenn er sich verloren gefühlt hatte, als sie gestorben waren. Vielleicht, weil ihm in dem Moment klar wurde, dass er keine andere Familie mehr hatte. Skye war für ihn da gewesen, und zu der Zeit war das alles, was er brauchte.

»Wollen wir schneller reiten?«, fragte Erin ihn aufgeregt.

Mitch stellte fest, dass er herausfinden wollte, wie weit Bullet und er gehen konnten.

»Klar.«

Sie lehnte sich über den Hals ihres Pferdes und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Daraufhin schoss das Tier vorwärts. Mitch spannte die Muskeln an, und Bullet setzte den beiden nach. Der Wind blies Mitch ins Gesicht. Trotz seiner Amputation hatte er keine Probleme, sich im Sattel zu halten.

Freiheit, dachte er. Er war dankbar für die Chance, dieses Gefühl noch einmal zu erleben. Dafür, dass sie ihn gedrängt hatte, war er Erin etwas schuldig. Er würde einen Weg finden, es ihr zurückzugeben. Er würde auch Skye etwas zurückgeben, aber aus ganz anderen Gründen.